
Ich habe einen Beitrag zum verantwortungsvollen Weingenuss versprochen. Dazu fällt mir ein Wort von Mark Twain ein: Eine Angewohnheit könne man nicht aus dem Fenster werfen. Man müsse sie die Treppe hinunter prügeln. Stufe für Stufe.
Ich sehe das anders. Ich bin in der Pfalz aufgewachsen. Sehr vom Wein und der Lebensart geprägt, steckt nun einmal ein kleiner Schluckspecht in mir. Und würde ich ihn die Treppe hinunterprügeln, käme er schneller als ich Prost sagen könnte, nur umso durstiger wieder zurück.
Mein kleiner Schluckspecht ist im Grunde ein friedliebendes Wesen, nur möchte er eben zum Feierabend seinen Rosé haben. Am Wochenende auch gerne als Aperitif einen kühlen Prosecco, fruchtigen Weißwein oder Rotwein zur Lektüre. Auf Basis der unterschiedlichen Bedürfnisse – Lebensfreude, Weinseligkeit versus Klarheit und Mäßigkeit - habe ich mit ihm entsprechende Kontingente und Spielregeln vereinbart; unter anderem auch eine goldene Regel: don’t drink and write.
Seitdem kommt es nur noch höchst selten vor, dass ich eine Flasche bis zum Weinstein austrinke. Es ist ein Mythos, dass man, um an die Quelle der Schöpferkraft zu gelangen, irgendein Rauschmittel braucht. Picasso soll einmal gesagt haben, dass Inspiration existiert, doch sie müsse einen bei der Arbeit finden. Und wenn das geschieht, bin ich so absorbiert, dass ich gar nicht merken würde, was oder wie viel ich trinke. Deshalb steht dann nur ein großes Glas Wasser auf meinem Schreibtisch. Und ja, das gilt auch für den Wein-Blog.
Ich mache mich auf den Weg Metzer Platz. Ulrike ist noch unterwegs. Friedrich hat gerade den Laden geschlossen. Es ist ein lauer Abend. Wir setzen uns in den Innenhof vor das malerische Weinlager, trinken Apfelschorle und sind schon beim nächsten Mythos: dem vom trinkfreudigfröhlichen Weinhändler, der jede sich bietende Situation nutzt, um gemeinsam ein Gläschen zu heben. „Ich habe zum Glück kein positives Gefühl beim Rausch“, sagt Friedrich, „brauche keinen Alkohol, um zu entspannen oder lustig zu sein.“ Am Wochenende trinke er abends gerne ein Viertel, manchmal auch unter der Woche. Mit dem Weingenuss halten er und Ulrike es so, wie mit allen anderen Dingen auch. „Egal ob Wein, Kuchen, Schokolade oder Fleisch. Wir genießen lieber weniger und dafür was Gescheites.“
Friedrich lächelt zufrieden. Und ich nicke zustimmend. Sehe das genauso. Doch gelingt mir die Umsetzung nicht immer so souverän und entspannt. Der kleine Schluckspecht ist zwar theoretisch mit meiner Mengenregulierung en miniature - die ja auch konsequent auf Qualität statt Quantität abzielt - einverstanden, praktisch muss ich aber doch immer noch sehr aufpassen, dass ich mich nicht durch einen Spruch oder gar ein Lied von der alten Pfälzer Weinseligkeit anstecken und somit übers Ohr hauen lasse („Sooo ein Tag! – So wunderschööön wie heute …“ oder „Wenn das Wasser im Rhein gold’ner Wein wär, ja dann möcht‘ ich so gern ein Fischlein sein …“).
Er würde sich weiter mäßigen, verspricht mein Schluckspecht. Er sähe es ja ein. Doch wie man auf die Idee kommen könne, trockenen Schnabels einen Wein-Blog schreiben zu wollen?! Das sei ja geradezu hanebüchen …
Hier kann Ulrike zum Glück weiterhelfen. „Tagesüber, im Laden, trinke ich auch keinen Wein. Doch wenn es die Situation erfordert, probiere ich“, erklärt sie. Sie kann die vielfältigen Nuancen und Aromen herausschmecken und beschreiben. Das liegt zum einen an ihrem feinen Geruchs- und Geschmackssinn und ist darüber hinaus auch eine Frage der Übung und Erfahrung. Außerdem beherrscht sie natürlich die professionelle Technik der Weinverkostung: Dazu hält sie den Wein vor eine Lichtquelle und prüft Farbe, Glanz und Klarheit sowie die Konsistenz; durch leichtes Schwenken zeigt sich, ob er frisch und jung ist oder in gehaltvollen Zähnen vom Glasrand zurückfließt. Durch das Schwenken werden auch die Aromen freigesetzt. Bei manchen Rebsorten wie zum Beispiel dem Muskateller, Morio-Muskat oder Scheurebe kann man das typische Bukett schon am Geruch erkennen. Nun schlürft man – es ist ein ganz behutsames, feines Schlürfen - einen winzigen Schluck Wein zusammen mit etwas Luft ein. Dies intensiviert das Geschmackserlebnis. Manche schließen dabei auch die Augen, um sich voll auf die Wahrnehmung der Aromen zu konzentrieren.
Der kleine Schluckspecht ist so überwältigt, dass er beschließt, diese Achtsamkeit künftig in den alltäglichen Weingenuss zu integrieren.