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Lamento

Zeichnung: Anne Riebel
Zeichnung: Anne Riebel

Fred betrachtet noch einmal die Einhard-Collage und lächelt zufrieden. Der kleine Geist der deutschen Sprache, der seit kurzem bei uns wohnt, lächelt nicht oft. Deshalb versuche ich, meine Nachdenklichkeit zu verbergen.

     „Jetzt lese ich also das Werk selbst? Teile davon hat ja Patzold in seinem Buch über Einhard auch schon aus dem Lateinischen übersetzt …“

     „Sie haben sich aber trotzdem für die Reclam-Ausgabe entschieden …“, Fred steht vor einer limitierten leinengebundenen Ausgabe des Berliner Bibliophilen Abends, die er in seiner Sofaecke aufgestellt hat. „Allein schon das Vorwort“, schwärmt er. „Hören Sie mal: ‚Wir blättern behutsam in alten Texten und werden immer neu mit wachsendem Staunen angerührt von dem Hauch zeitunabhängiger Wirkung des menschlichen Geistes. Wir begreifen verstärkt Sinn und Bedeutung der Schrift und des Buches, und wir spüren schließlich etwas von dem Erleben, welches erste und unabdingbare Voraussetzung ist für die Verwirklichung wahrer Bibliophilie.‘“

     „Schön“, sage ich etwas abwesend, während Fred das beiliegende Faksimile einer Handschrift der Vita Karoli Magni [1] bestaunt. Normaler Weise kann ich mich an solchen Gedanken immer aufrichten. Schriften und Sprachen finde ich unendlich faszinierend. Fred und ich haben schon mehrfach darüber gesprochen. Dass Texte, die einerseits aus 26 Buchstaben und einigen Satzzeichen zusammengesetzt sind, gleichzeitig eine geistige Reise durch Zeiten und Räume ermöglichen, ist für uns beide ein großes Wunder.

     „Was ist los mit Ihnen? Sie haben die Übertragung der Dame gewählt; das ist doch vollkommen in Ordnung, angesichts der Männerlastigkeit in den alten Schriften …“

     „Das ist es nicht. Für die Übersetzung von Firchow habe ich mich entschieden, weil sie mir klarer, neutraler vorkommt. Auch wenn das Pathos, welches bei den anderen mitschwingt, Einhards Wesen vielleicht mehr entspricht …“

     „Mir scheint, es quält Sie etwas …“

     „Ja. Die Grausamkeiten quälen mich. Auch wenn mir klar ist, dass ich den alten Schriften nicht mit meinem heutigen Anspruch an Empathie und Respekt begegnen kann, komme ich mir doch wie eine Verräterin vor, wenn ich das ganze Leiden einfach links liegen lasse. Karl der Große hatte sieben Frauen und mehrere Geliebte. Die erste Frau von Ludwig dem Frommen ist im Stammbaum nicht einmal mit Namen verzeichnet. Die zweite wurde zwischendurch geschoren und ins Kloster gesteckt … Von Einhards Frau heißt es, dass sie einen wichtigen Platz in seinem Leben eingenommen hätte. Doch sie kommt nur zur Sprache, wenn es um ihre Beisetzung geht. Oder um seinen Schmerz nach ihrem Tod.“

     „Dann war sie wahrscheinlich glücklich“, meint Fred. „Hatte ein gutes Leben, das war für die damalige Zeit ein großes, ein sehr großes Glück. Der Alltag fast aller Menschen war von Gewalt und großen Grausamkeiten geprägt. Die einfachen Leute mussten unsäglich schwer arbeiten, nur um irgendwie über die Runden zu kommen. Dürren, Unwetter, Hungersnöte und Kriege waren an der Tagesordnung. Letzteres bedeutete, dass ein Heer ausgestattet und vielleicht sogar Plünderungen ertragen werden mussten. Auch der Klerus wollte finanziert werden …“

     „Bei Hofe lebte man dagegen in großem Luxus“, bemerke ich. „Aber gemütlich war es da auch nicht …“

Fred gibt einen Laut von sich, der irgendwo zwischen Lachen und Zwitschern liegt. „Nein. Wahrhaftig. Selbst Brüder haben sich bekriegt. Neffen und Söhne sich gegen ihre Väter verschworen. Und wer zur falschen Zeit am falschen Ort einen falschen Gedanken äußerte, wurde eben mal geblendet … bekam die Zunge herausgeschnitten …“

     „Oh, hören Sie auf! Was nützt es, wenn wir die ganzen Gräueltaten immer wieder explizit beschreiben …?!“

     „Nun, ich mag es auch nicht, wenn sich Autoren oder Gesprächspartner mit einer schon fast lustvoll-dunklen Leidenschaft darin suhlen … Aber was Ihre Reise durch den Kanon der Literatur angeht: Sie können sich nicht in alle vernachlässigten, gebeutelten und ungerecht behandelten Wesen so sehr einfühlen.“

     „Da haben Sie wohl einen Punkt …“

     „Noch das Pferd am Rande des Kapitelchens tut Ihnen leid. Und die Flöhe, die zwischen den Zeilen husten …“

    „Stimmt. Ich könnte in einem fort lamentieren. Dabei hilft es mir nicht einmal. Manchen geht es ja, wenn sie eine Weile alles herausgejammert haben, wieder besser …“

     „Es sei denn, wir machen es wirklich“, Fred hüpft von einem ungewöhnlichen Tatendrang gepackt auf den Esstisch. „Ein Lamento ist nämlich in der Musik tatsächlich ein Klagelied …“ Er schaut sich um und lässt die Flügel sinken. „Ich, ähm … Bei Ihnen ist es so schön, dass ich zuweilen vergesse, dass ich nur noch ein kleiner Geist bin …“

     „Was hatten Sie denn vor?“

     „Ich glaube, ich war einmal Organist.“ Fred wischt sich ein winziges Semikolon aus dem Augenwinkel. Ich verschwinde kurz, komme mit einer Holzkiste zurück, die ich neben ihm auf den Tisch stelle. Entsetzt läuft er rückwärts.

     „Das ist eine magische Kiste …“, in meiner Freude merke ich nicht gleich, dass er grün um den Schnabel geworden ist. Mich misstrauisch beäugt.

     „Sie haben jetzt nicht gedacht, dass ich Sie einsperren wollte, oder?“

     „Hhhm. Na ja … Nein … Es ist nur …“

     „Ginge das überhaupt“, entfährt es mir. Manchmal ist meine Neugier einfach schneller, als die angebrachte Rücksichtnahme.

     „Auch der freieste Geist hat seine Grenzen“, murmelt Fred, während ich die Scharniere öffne, den Deckel aufklappe und mit einem sanften Ruck das Manual aus der Versenkung hebe. „Ein kleines Harmonium.“ Fast ehrfürchtig kommt er näher, klettert auf den Griff und macht sich an den Registern zu schaffen. Als er anfängt zu spielen, tauche ich ein, in die traurig-tröstliche Melodie. Ich denke an all die Menschen, die durch ihr Leben gehen mussten, ohne die große Freiheit, sich ein kleines Glück gestalten zu können. Und dann denke ich daran, wie wundervoll es doch ist, dass man auch Musik aufschreiben kann. Dass uns die Klänge der einzelnen Epochen auf unserer Reise begleiten werden. Und dass jeder, neben so vielem anderen, auch sein ganz eigenes Lamento in sich trägt.



[1] Die erste Seite dieser Handschrift aus dem Codex Vindobonensis 529 der Österreichischen Nationalbibliothek habe ich u. a. für die Erstellung der Einhard-Collage verwendet.

 

 

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