
„Anne …?“
„Hhm?“
„Sie wirken heute nicht so entspannt wie sonst bei der Lektüre.“
Ich lasse die Broschüre in meiner Hand sinken.
„Sie sind nicht sonderlich erfreut oder von Interesse gepackt“, bemerkt Fred. Der kleine Pinguin ist ein Geist der deutschen Sprache. Seit Anfang des Jahres genießt er Asyl bei uns, denn er ist auf der Flucht vor dem Zeitgeist. Fred hat sich ganz gut eingelebt. Tagsüber sitzt er fast immer in seiner Sofaecke und liest. Doch jetzt ist er hinter seinem Buch hervorgekommen und schaut mich fragend an. „Was ist das überhaupt?“
„Eine Art Reiseführer über Aachen. Ich würde da gerne mal hinfahren …“
„Oh! Reisen. Das ist sehr aufregend. Und überaus anstrengend. Man weiß nie, wie die Wegstrecke ist. Was für ein Quartier einen erwartet. Ob es zu unliebsamen Verzögerungen kommt, weil die Pferde nicht gewechselt werden können …“, Fred räuspert sich. Es ist nicht das erste Mal, dass diese merkwürdige Stille zwischen uns entsteht, weil er nicht weiterspricht und ich mich nicht traue zu fragen. Doch heute fasse ich mir ein Herz:
„Wie alt sind Sie eigentlich, Fred? Sie müssen nicht antworten, wenn Sie es als indiskret empfinden …“
„Wer nicht neugierig ist, erfährt nichts. Das ist nicht von mir, sondern von Goethe“, Fred lächelt wehmütig. „Natürlich hätten Sie als asylgewährende Instanz ein Recht darauf, meine persönlichen Daten zu erfahren. Und gegebenenfalls auch zu erfassen … Wenn es denn unbedingt sein müsste. Die Sache ist nur, dass ich es leider nicht weiß.“
„Oh!“
„Ich habe ein sehr starkes Empfinden für die Zeit der Aufklärung. In der Literatur der Romantik fühle ich mich Zuhause. Und die klassischen Dichtungen der Antike üben eine besondere Faszination auf mich aus. Aber ich kann Ihnen nicht sagen, ob ich diese Art von Erinnerungen aus einem oder mehreren Leben gewonnen habe. Oder ob es sich um eine Folge meines hemmungslosen Literaturgenusses handelt.“
„Ist ja nicht weiter tragisch. Ihrer Sprache nach zu urteilen, sind Sie auf jeden Fall kein Millennial.“
Das heitert ihn auf. Er hüpft zu mir herüber, wirft einen Blick in die Broschüre und stößt einen Laut des Entzückens aus, der fast wie ein Zwitschern klingt. „Route Charlemagne – ein Spaziergang zu den bedeutenden Orten und Bauwerken der Stadt. Das neue Stadtmuseum als erste Etappe, liegt im Herzen der alten Kaiserpfalz …“, atemlos vor Begeisterung sieht er zu mir auf. „Manchmal ist das moderne Leben doch auch überwältigend.“
„Genau das ist mein Problem. Ich kriege schon Kopfschmerzen, wenn ich mir nur vorstelle, durch dieses Museum zu laufen. Dann gibt es noch das Rathaus. Ein Grashaus … Allein um den Dom in Ruhe anzuschauen, bräuchte ich wahrscheinlich eine Woche.“
„Sehr verständlich, meine Liebe.“ Fred nimmt das Büchlein und hantiert mit Klebchen. Dinge aus Papier oder Porzellan kann er greifen, obwohl er ein Geist ist.
„Dabei interessiere ich mich doch sehr für die Geschichte“, jammere ich.
„Ich weiß. Ich habe dieser Tage in Ihrer Kartei geblättert. Eine sehr praktische und pfiffige Arbeitsunterlage. Sie müssen viele Stunden darauf verwendet haben?“
„Ja. Mein eigentliches Steckenpferd ist die Literatur. Ich wollte bis zu den Wurzeln vordringen, aber schon bald habe ich gemerkt, dass Geschichten und Geschichte immer enger ineinandergreifen, je weiter ich in der Zeit zurückgehe. Und dass ich das eine ohne das andere nicht verstehen würde. Nicht in der Lage wäre, das Gelesene in den jeweiligen zeitlichen Kontext zu setzen.“
„Was für ein Trost. Das scheint mir nämlich eine von vielen Kulturtechniken zu sein, die derzeit ganz aus der Mode gekommen sind.“
„Es ist ja auch nicht einfach. Ich hatte vieles schon so oft gehört, gelernt, gelesen. Und konnte es mir doch nie merken. Oder habe Begebenheiten, Namen und Orte die ähnlich klingen verwechselt.“
„Haben Sie deshalb den einzelnen Epochen Farben zugeordnet?“
Ich gerate aufgrund der Möglichkeiten, die sich auftun, wenn man die Kreativität hinzunimmt, wieder einmal ins Schwärmen. „Schauen Sie, das 16. Jahrhundert ist bei mir grün. Wie der Hintergrund auf dem bekannten Portrait Luthers von Cranach. Somit weiß ich immer, wo die beiden hingehören. Und kann künftig weitere Bilder damit verknüpfen.“
„Und was wissen wir von Karl dem Großen?“
„Frühmittelalter. Das Frankenreich. Schwache Merowinger-Könige. Es regieren eigentlich die Hausmeier. Einer davon – Karl Martell – übernimmt im Hintergrund die Macht. Sein Sohn Pippin begründet als König die Herrscherlinie der Karolinger. Dessen Sohn Karl regiert 40 Jahre lang und wird im Jahre 800 zum Kaiser gekrönt. Engagierte sich für Bildung, Wissenschaft, Kunst und Literatur. Minuskelschrift und Buchmalerei. Marienkirche. Ein Elefant als Geburtstagsgeschenk. Die Paläste, in denen er Hof hielt, nennen sich Pfalzen. Seine Lieblingspfalz war Aachen.“
Fred strahlt. Und gibt mir die Broschüre zurück. „Alles was Sie für eine glückliche Reise nun noch brauchen ist Einhard.“
„Einhard?“
„Einhard und sein epochales kleines Werk. Die Vita Karoli Magni.“