
Die Sprache gefällt mir. Die Ruhe und Eindringlichkeit mit der Anna Bolavá erzählt. Im Präsens. Im Sommer. In Südböhmen. Es ist alles sehr intensiv und detailliert. Das, was sie schildert – immer wieder schildert – zwingt mich beim Lesen zur Langsamkeit. Fordert mir höchste Aufmerksamkeit ab. Das ist Entschleunigungs-Literatur im besten Fontane‘schen Sinn. (Fred sieht das übrigens auch so).
Bald bin ich ganz mit eingetaucht in die üppige Natur in der die Hauptfigur des Romans, die ebenfalls Anna heißt, Blüten und Heilkräuter sammelt. Ich habe den Duft der Linden in der Nase. Spüre fast selbst ihre Klebrigkeit an den Händen. Oder das Piksen von Dornen oder Stichen auf der Haut.
Anna kennt sich mit Pflanzen und ihrer Umgebung aus. Es ist ein tiefes mit ihren frühesten Erinnerungen verknüpftes Wissen, denn sie hat das alles von ihrer Großmutter gelernt und deren Passion übernommen.
"Ich betrachte eine Königskerze aus der Nähe und Staune wie vollkommen sie geschaffen ist. Schon allein die gelbe Haut der zarten Blüte ist ein Wunder. Woraus besteht sie eigentlich? … Woraus sind Blüten gewebt? Was ist das für ein vollkommenes Material?"
Doch es ist weniger eine Hinwendung zu Natur oder Heilkunst, die Anna immer wieder an- und hinaustreibt. Das innere Ringen um Erfolge, und die noch mit dem Zauber kindlicher Ferientage aufgeladenen Rituale sind der nicht mehr ganz jungen, sehr kranken Frau Ansporn, sich selbst noch einmal für einen Tag, eine Woche herauszufordern … Die wilde Leidenschaft, die sie entwickelt – und die manchmal die Grenze zur Besessenheit sogar überschreitet – führt sie immer weiter von sich weg. Bald vernachlässigt sie ihre Selbstfürsorge genauso, wie die Beziehungen.
Besonders berührt hat mich in diesem Zusammenhang die Schilderung der dörflichen Gemeinschaft. Nachbarn und Verwandte bemühen sich um Anna. Da sie aber für ihre emotionalen Schwierigkeiten kein Verständnis aufbringen, ihre Andersartigkeit nicht akzeptieren können, gelingt es ihnen nicht, zu ihr durchzudringen.
"Vor langer Zeit habe ich die Mädels mal gefragt, ob sie sich manchmal ihrer selbst bewusst werden, einfach dass sie sind …"
In sich zurückgezogen triftet sie schließlich durch eine skurrile Wahrnehmungswelt, in welcher sich Kindliches mit Träumen, die Schatten ihrer erwachsenen Vergangenheit mit Trugbildern verquicken. Der Sog, mit dem es Anna unaufhaltsam in die Dunkelheit zieht, ist von Anfang an zu spüren – auch und gerade durch das, was nicht gesagt, nur gestreift oder angedeutet wird.
"Ein erster Blitz begrüßt mich. Der Donner ist noch weit weg. So schöne schwarzblaue Wolkentürme habe ich lange nicht mehr gesehen."
Das Kräutersammeln im großen Stil, sei nichts für Zartbesaitete, heißt es in einem Zitat am Anfang des Buches. Das trifft auf Lektüre dieser Art
wahrscheinlich auch zu. Lange Zeit habe ich mich mit solchen Büchern schwergetan, weil mich die düsteren Stimmungen heruntergezogen haben. Inzwischen kann ich die Schönheit der Melancholie in
Maßen durchaus genießen. Auch weil ich irgendwann angefangen habe, aus Büchern nicht nur etwas herauszulesen. Interessantes über Heilpflanzen zum Beispiel. Auf der Gefühlsebene lese ich auch in
ein Buch hinein: Meinen Frust, meine Verzweiflung, meine Traurigkeit nimmt Anna mit auf ihren Dachboden, wo sie alle Blüten hingebungsvoll trocknet ...
Anna Bolavá - Der Duft der Dunkelheit, übersetzt aus dem Tschechischen von Katharina Hinterer
2022 Mitteldeutscher Verlag, Halle (Saale)