
In meinem Bücherregal liegt ein Pinguin!
Ich reibe mir die Augen. Reisen und Feiertage sind anstrengend für mich. Wenn ich nicht dazukomme, mich schöpferisch auszudrücken, rächt sich meine überbordende Phantasie zuweilen mit Trugbildern ...
"Nichts ist schwerer zu ertragen, als eine Reihe von guten Tagen ...", murmelt der Pinguin. Er öffnet die Augen. Und fährt so heftig auf, dass er sich den Kopf am Regalbrett stößt. Mit der einen Flügelhand fasst er sich an die Stelle, mit der anderen tastet er suchend um sich. "Ist nicht von mir, der Ausspruch. Sondern von Goethe. Wobei er eigentlich auf Luther zurückgeht."
"Suchen Sie die?" Ich reiche ihm seine Brille.
"Sie können mich sehen", fragt er mit gerunzelter Stirn, während er sich den Zwicker auf den Schnabel steckt.
"Jah ..."
"Das war das Risiko. Der einzige Haken an der Sache. Verdammt!" Er lässt die Hand sinken.
"Tut es weh?"
"Nein. War nur ein Reflex aus der Erinnerung. Ich spüre längst keine körperlichen Schmerzen mehr."
"Wer sind Sie?"
"Oh. Verzeihung!" Der Pinguin schwingt sich mit einem eleganten Satz auf meinen Schreibtisch und verneigt sich. "Ich bin Fred. Fred Schulze. Geist der deutschen Sprache."
"Geist von ... was?"
"Geist der deutschen Sprache", wiederholt er geduldig. "Es tut mir leid, dass ich außer meinem Wort keinen weiteren Nachweis der Legitimation vorlegen kann. Meine Visitenkarten musste ich auf der Flucht zurücklassen."
"Vor wem sind Sie denn geflohen?"
"Vor dem Zeitgeist natürlich!"
"Das kann ich verstehen", sage ich und spüre, wie sich ein mitfühlendes Lächeln auf meinem Gesicht ausbreitet. "Aber was wollen Sie hier bei mir?"
"Asyl. Das Wort kommt aus dem Griechischen und beschreibt einen Zufluchtsort." Fred sieht sich ehrfürchtig um. "Einen besseren solchen könnte ich mir nicht einmal erträumen. Es wäre fast zu schön, um wahr zu sein. Hier ist alles klar. Geordnet. Und dann dieses Regal. Mit fast allen Duden-Bänden und einem Literatur-Lexikon. Seit Jahren habe ich nicht mehr so tief und friedlich geschlafen."
Fred murmelt etwas von einem Verhängnis. Von der Lektüre meines Dunkelfelder. Dass die Geistwelt ja nicht unbedingt ein Buch mit sieben Siegeln für mich sei. Und er darauf all seine Hoffnung gesetzt hätte, für den Fall, dass das Schlimmste eintreffen, und ich ihn entdecken würde."
"Sonst hätten Sie einfach heimlich bei mir gewohnt?"
Fred zieht seine Flügel fast bis zu den Ohren und schaut mich erwartungsvoll an.
"Was brauchen Sie denn so?"
"Ruhe", sagt Fred Schulze und hält sich die Ohren zu. "Vor allem Ruhe." Dann sieht er auf. "Streiten Sie sich oft mit Ihrem Mann? Ich meine, es ist natürlich eine sehr indiskrete ..."
"Wurde denn dort, wo Sie herkommen viel gestritten?"
Fred nickt. "Es war schrecklich. Am Ende haben sie sich getrennt. Sie ist jetzt bei den Querdenkern. Und er bei der AfD. Seite an Seite demonstrieren sie. Sind gegen alles, was mir immer lieb und teuer war ..." Fred räuspert sich. Ein winziges Semikolon fällt ihm aus dem Augenwinkel. "Also: Einmal am Tag gehe ich an die frische Luft. Wenn Sie zwischendurch ein Tässchen frischen Kaffeedampf für mich hätten ... Und wenn ich in diesem Bücherregal schlafen dürfte ..."
"Und zu essen?"
"Lektüre."
"Wir scheinen viele Gemeinsamkeiten zu haben", ich versuche zu lächeln. Doch da ist etwas, das mich verwirrt. "Sagen Sie mal, Fred. Warum sind Sie eigentlich ein Pinguin?"
"Warum sind Sie eine freundliche kleine Pfalz-Nudel?" Die Worte sind kaum aus ihm heraus, als ihm ein kräftiges Magenta in die Wangen schießt. "Pardon. Es war nicht so gemeint ... Mein Schnabel ist zuweilen schneller als ..."
"Meiner auch", sage ich, während ich mir Lachtränen aus dem Gesicht wische.
Fred mustert mich kurz verdutzt. Dann prusten wir gemeinsam los.
"Mit Metaphern habe ich manchmal eine lange Leitung", gesteht Fred. Und dann müssen wir schon wieder lachen, weil eine lange Leitung ja auch eine bildhafte Wendung ist. Und eine Alliteration ...
"Na ja, dann", sage ich schließlich etwas unsicher. "Herzlich willkommen! Ich schwenke keine Fähnchen. Bringe Ihnen keine Zuckerwatte ..."
"Ein solides Frühstück wäre mir jetzt überaus lieb?"
"Worauf haben Sie denn Lust?"
"Ob Sie wohl Fontane da hätten? Zum Schluss stirbt ein Alter und zwei Junge heiraten - das ist so ziemlich alles, was auf 500 Seiten geschieht."
"Der Stechlin? Sie haben drei Ausgaben zur Wahl."
"Geistgewordene Entschleunigung. So was wird heute gar nicht mehr geschrieben ..."
"Da möchte ich Ihnen widersprechen ..." Ich ziehe ein tiefgrünes, schweres Buch von einer tschechischen Autorin aus dem Regal.
"Oder gelesen ...", murrt Fred, während er den Klappentext studiert. "Ich würde sagen, es ist doch ... " Er schlägt das Buch auf. "Geht doch nichts über ..."
Jemanden, der sich so in ein Buch vertiefen kann, dass er für die nächsten Stunden in stillem Lesevergnügen alles um sich herum vergisst ...