
Ein Schwarzwaldroman
von Birgit Hermann
Wieder einmal haben wir unseren Urlaub auf dem Griesbachhof im Jostal im Schwarzwald verbracht. Auf dem Kachelofensims der gemütlichen Wohnküche habe ich dieses Buch entdeckt. Es spielt um 1800. Also vor etwas mehr als 200 Jahren just in der Gegend, in der wir uns befanden. Unter dem riesigen Dach eines solchen Hofes wohnten damals noch keine Gäste in einer liebevoll und modern eingerichteten Ferienwohnung. Neben den Mitgliedern der oft sehr großen Familien waren auch die Dienstboten und, in den Ställen unter dem Heustock, das Vieh untergebracht.
Um es gleich vorweg zu nehmen: Das Buch ist nichts für sensible Gemüter. Zu den ohnehin schon rauen Lebensbedingungen kamen aufgrund des Krieges ständige Belagerungen, Einquartierungen und Seuchen. Frauen hatten so gut wie keine Chancen, gewaltfrei und sexuell unbehelligt durch ihr Leben zu kommen. Der Eigenraum der persönlichen Gestaltung und Entwicklung war, wenn überhaupt vorhanden, sehr schmal eingegrenzt.
Zahlreiche Handlungsstränge winden sich um die Geschichte einer jungen Frau, die in einer sehr armen Familie aufwächst, welche von einem tyrannischen Vater beherrscht wird. Schließlich dann aber doch einen Weg findet. Sie erzählen von den für die Region typischen Gegebenheiten und Bräuchen. Von der Arbeit der Bauern im Jahresverlauf. Vom Glauben und Aberglauben. Natur und Handwerk. Für den frühen hohen Stand des Uhrenbaus ist der Schwarzwald ja bekannt. Interessant waren auch die Schilderungen rund um die Wanderungen der Uhrenhändler, die die während der Wintermonate gefertigten Werke im Frühling über die Alpen bis nach Florenz getragen haben. Die Apfelrose ist übrigens ein beliebtes Motiv, das die Schilde der Holzuhren schmückte.
Das Buch hat über 600 Seiten. Ich habe die ganze Woche über darin gelesen. Zwischendurch auch die Zeitung. Und da war sie wieder. Diese Empörungskultur. Dieses Selbstverständnis, dass der Staat in allen Nöten helfen und alle Probleme lösen muss. Als gäbe es die Möglichkeit eines Null-Risiko-Daseins. Als wären wir dem Leben mit seiner Unberechenbarkeit und tausend Abhängigkeiten nicht unterworfen. Als hätte man als Bürger in einem modernen demokratischen Kontext keine Pflichten und keine Selbstverantwortung.
Das heißt nicht, dass ich etwas gegen Entlastungen und Hilfen - vor allem bei denjenigen, die sie dringend benötigen - einzuwenden hätte. Das heißt auch nicht, dass ich mit allem, was die Verantwortlichen tun oder lassen einverstanden bin. Ich bin aber der Ansicht, dass den meisten Verantwortlichen hier und heute das Wohl ihrer Familienmitglieder, Bürger, Mitarbeiter und Mitmenschen nicht egal ist. Die anderen sollten in der Zeitung stehen.
Dort steht aber etwas von Gender-Sprach-Gendarmen. Auch ohne Sternchen. Wie hier im Eifer meines verbalen Gefechts. Weil ich jetzt das, was mich bewegt ausdrücken möchte. Weil ich denke, dass der Inhalt nicht in dem komplizierten Gerangel um die Form untergehen sollte.
Und auch dafür steht Die Apfelrose. Die unter anderem wegen einiger moderner Ausdrücke, die sich in den umfangreichen Text eingeschlichen haben, kritisiert wurde. Und selbstverständlich nicht in der Sprache einer Annie Ernaux verfasst ist. Gerade deshalb würde ich sie, wenn ich die Bildungsministerinnen von Deutschland wäre, auf die Lektüreliste für den Unterricht setzen. Weil in der Sprache von Birgit Hermann die Dunkelheit des Waldes, der Duft nach Holz und Heu, das Läuten von Kuh- und Kirchenglocken und eine natürlich-erdige Demut mitschwingen.
Nach der Lektüre der Apfelrose denke ich wieder einmal, dass Emanzipation ein Prozess ist. Ein Prozess, der immer wieder neu durchlaufen und fortgeführt werden muss. Es gibt sicherlich noch viel zu tun. Im Schwarzwald, in der Pfalz. In allen Ecken Deutschlands. In Europa und der Welt. Doch er sollte beginnen mit der Frage: Wo komme ich her? Was bringe ich mit? Wo stehe ich jetzt? Und dann vielleicht: Was habe ich jenen, die vor mir da waren und meine solide Basis mitgeschaffen haben, zu verdanken? Und das betrifft den mutigen Kampf, das unumwundene Brechen des Schweigens genauso, wie eine jahrelange Hingabe. Verzicht und Erdulden. Und das Bewahren von Geheimnissen.
Die Apfelrose ist 2005 im Schillinger Verlag erschienen. Das Buch ist antiquarisch erhältlich. Die Autorin hat weitere historische Schwarzwaldromane geschrieben, in denen es unter anderem um Geigenbau und das Glasmachermilieu geht.