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"Seine Bibel waren Himmel und Erde ..."

(c) AR - Kosegartens Vision
(c) AR - Kosegartens Vision

Liebe Leserinnen, liebe Leser,

wie versprochen, finden Sie hier nun einen ersten Beitrag zu meinem Dichter des Jahres 2022 Gotthard Ludwig Kosegarten:

Da es vor etwas mehr als 200 Jahren den Fischern von Vitt nicht möglich war, zur Zeit des Heringsfangs einen zweistündigen Fußmarsch nach Altenkirchen zum Gottesdienst zurückzulegen, bestand der auf slawische Kulte zurückgehende Brauch im September und Oktober unter freiem Himmel zu predigen. Viele Pfarrer delegierten diese Uferpredigten an ihre Gehilfen. Kosegarten aber war begeistert. Er sah es als seine Aufgabe an, die Natur als aufgeschlagenes Buch Gottes in all ihrer Schönheit den Menschen nahezubringen, sie damit zum Leben zu locken, zu ermutigen und zu trösten. Dies schreibt Katharina Coblenz-Arfken in ihrer Einleitung als Herausgeberin von Kosegartens Uferpredigten. Sie war selbst Pastorin in Altenkirchen und dementsprechend nutzt sie die Begrifflichkeiten, die das Göttliche betreffen genauso selbstverständlich wie er.

 

Doch heute könnte ich es ja mit Leserinnen und Lesern jeglicher religiösen/spirituellen Couleur zu tun haben … Es gibt eine Bibelübersetzung in gerechter Sprache, da wird Herr zu Die göttliche Kraft. Manche nennen es Lebenshauch. Andere Chi. Im Gegensatz zu vielen ursprünglichen Schöpfungsmythen ist die (Mutter) Erde im Christentum dem (Vater im) Himmel nicht unbedingt gleichgesetzt. Kosegarten aber sagt über Jesus: Seine Bibel waren Himmel und Erde. Und er fährt fort: Es umwölbt uns der ewige Himmel. Es umleuchtet uns die freundliche Sonne. Es umlächelt uns unsere mütterliche Erde. Es rauscht das Meer.

 

Doch welchen Begriff für das Göttliche würde ich wählen, um auch all jene, die nicht christlich geprägt oder unterwegs sind, miteinzubeziehen? Auch da kommt mir Kosegarten zu Hilfe: der Allliebende oder Überallliebende schreibt er oft, sogar in seinen Gedichten. Das Allliebende? Oder vielleicht noch schöner die allumfassende Liebe, die ich mir bunt vorstelle, wie die Farben eines Regenbogens.

 

Es gibt viele Stellen in den Uferpredigten, die trotz der – für unseren modernen Geist - herausfordernden Ausdrucksweise Kosegartens wunderschön, bereichernd und tröstend sind. Dass er seine Predigten über die Schönheit der Natur oft mit einer Art von Naturkundeunterricht verknüpft hat und somit deutlich macht, dass Wissenschaft und Glaube keinesfalls einen Widerspruch darstellen, hat mir das Herz aufgehen lassen. Das Staunen über eine Entdeckung befeuert die Freude, Erkenntnisse über die Zusammenhänge führen zu Demut vor der Schöpfung.

 

Besonders berührt hat mich die Predigt, die vom Sand am Meere handelt. Auch im Geringfügigsten, im Kleinsten, im Nervtötendsten sollen wir das Göttliche erkennen. So seht ihr denn, o Freunde, dass auch das Sandkörnchen den Ewigen predigt, dass auch das Sonnenstäubchen von ihm zeugt, dass auch jedes Atom unserer Dünen ihn verherrlicht. Deshalb sollen wir nicht zürnen, sondern dankbar sein. Und staunen, denn es gibt Pflanzen, die selbst im dürrsten Flugsande Wurzeln schlagen. … mittels unzähliger Häkchen, Klammern, Fasern und Wurzeln den Sand allmählich binden und fesseln. …Es geschieht im Laufe von Jahrhunderten, dass dem leisen aber festen Gange der Natur zufolge, die dürreste Dürre zur grasreichsten Steppe sich veredelt, dass auf einem einst öden Flugsande grüne Saaten wallen.

 

Kosegarten war der Meinung, dass der Planet zwar langsam, jedoch mit Sicherheit wirkender Naturgesetze seiner Vollendung mit jedem Zeitabschnitt immer mehr entgegenreife. Er sieht einer besseren Zukunft entgegen, einem goldenen Zeitalter, wo der gerettete Mensch gutmütiger und harmloser sei, wo jene Brandmale der Menschheit, Krieg, Sklaverei, Leibeigenheit, Despotismus und Fanatismus zu den Mächten der Fabelwesen gezählt werden; wo die Nationen gleich eben so vielen Familien beieinander wohnen werden; wo es nur ein Vaterland geben wird, die Erde, und nur eine Landsmannschaft, den Menschen; wo es keine Sklaven geben wird, sondern nur Brüder, wo es keine Gesetze geben wird, ohne die ewige Norm des Rechts und Unrechts, und keine Gerichtshöfe, ohne das in jeder Menschenbrust thronende Gewissen; wo es nur eine Freude geben wird, das Leben, und nur ein Übel, den Tod; daferne dieser noch ein Übel wird genannt werden dürfen, wenn der gezeitigte Mensch dem Leben so leise entgleitet, wie eine … Frucht, gepflückt von ihrer eigenen Reife dem Ast entsinkt, auf dem sie war geboren worden …

 

Liest Anne Riebel keine Nachrichten, wird sich der eine oder die andere jetzt vielleicht fragen. Das ist doch vollkommen unmöglich, völlig naiv! Naiv heißt nicht dumm. Eine von vielen sprachlichen Unsauberkeiten, die uns das Leben unnötig schwermachen. Sand ins Getriebe unserer Sprachkultur und Verständigungsfähigkeit streuen. Wie würde die Erde aussehen, wenn alle besonnener und präziser mit Sprache umgingen?

 

Naiv heißt u.a. natürlich, unbefangen … Und diese Unbefangenheit, diese Offenheit, dieses Vertrauen braucht es, um Visionen zu entwickeln. Oder sie sich von einem Kosegarten durch die Zeit reichen zu lassen. Vielleicht streifen wir dabei Hesse, der das Wesen einer Vision auf den Punkt gebracht hat: Man muss das Unmögliche versuchen, um das Mögliche zu erreichen.

 

In einer Sandwüste Gras wachsen lassen. Eine Oase finden, in der man sich ausruhen und erholen kann, von dem Chaos, den Schreckensmeldungen, der Gewalt und der Empörung. Und dann weitermachen. Die Oasen immer weiter ausbauen. Was kann ich schon tun? Das fragen sich bald 8 Mrd. Menschen ...

 

Als ich schließlich versuchte, Kosegarten im Zusammenhang mit den Uferpredigten zu zeichnen, erschien er allein in einer stillen Bucht. Vielleicht, weil er sich auch dafür regelrecht begeistern konnte. Stille und Einsamkeit sind dem Menschen, der sich selbst verstehen lernen will, gewiss nicht minder unentbehrlich, als Umgang und Gesellschaft. 

 

In diesem Sinne wünsche ich Ihnen ein schönes und sonniges Osterfest!

 

Herzlichst

 

(c) AR - Kosegartens Vision

 

Zitatnachweis/zum Weiterlesen:

Gott in der Natur – Aus den Uferpredigten G. L. Th. Kosegartens, Katharina Coblenz-Arfken (Hg.), Edition Temmen, Bremen 2020

 

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