Liebe Leserinnen, liebe Leser,
voller Vorfreude habe ich nach der gelungenen Station in Sondershausen den Koffer gepackt, um es meinem geliebten Wezel und Fontane gleichzutun und in den Harz zu reisen. Klopstock ist in Quedlinburg geboren, Heinrich Heine in seiner Weitwanderung bis zum Brocken gelangt. Und Goethe - über denn man hier ja beinahe an jeder Baumwurzel stolpert - hat ebendort seine zentrale Faust-Szene, die Walpurgisnacht spielen lassen.
Würde ich nun auch bald staunend in einer erhabenen Mittelgebirgslandschaft stehen? Begeistert die Größe der Schöpfung preisen? Eichendorffs Der Jäger Abschied - die Melodie ist von Mendelssohn Bartholdy - klingt mir auf der Fahrt immer wieder durchs Gemüt. "Wer hat dich du schöner Wald, aufgebaut so hoch dort droben. Wohl den Meister, will ich loben ..."
Doch je näher wir unserem Reiseziel direkt unterhalb des Blocksbergs kommen, desto mehr ist der Wald gerade mal weg. Immer größere kahlgeschlagene Flächen, immer höher aufgetürmte Holzstapel. Und dazwischen tote Bäume. Das Lied in meinem Kopf wird zur bitteren Ironie: "Lebe wohl, lebe wohl du schöner Wald!"
Was ist da los? Mindestens hundert Jahre Monokultur mit schnellwachsenden Fichten, weil man eben einen hohen Holzbedarf hatte. Dazu der Klimawandel, Trockenheit, Borkenkäfer ... Was für ein Bild: Gerade der Brocken mit seiner gewaltig-lockenden Mystik zu achtzig Prozent kahl!
Mein Mann hat meinen Gesichtsausdruck, als ich den toten Wald betrachtete, eingefangen (was ich Ihnen vorenthalte) und mich dann an meinen eigenen "Hexen"-Grundsatz erinnert. Es ist ein Buchtitel von Wazlawick, nur umgedreht: Vom Guten im Schlechten. Gibt es das hier überhaupt? Ich denke schon, denn die Natur zwingt nun eben sofort dazu, mit einer nachhaltigen Aufforstung zu beginnen, so dass hier wieder lebendige, artenreiche, wirklich schöne Laub- und Mischwälder entstehen können.
Und die Mystik, die Brockenhexen? Nun, sie haben dafür gesorgt, dass mich ein heftiger, schöpferischer Sog erfasst und in ihren Bann gezogen hat. Ich soll erst einmal ausrichten, dass sie niemals einen Teufel als Herrn gebraucht, verehrt oder angebetet hätten, wenn sie sich in der Walpurgisnacht trafen, um den Frühling zu feiern. Hier irrt also der hochverehrte Herr Dichter, sei sein Konterfei auch noch so oft in Stein gemeißelt ...
Was sie sonst noch zu sagen hatten? Nun, lesen Sie selbst.
Herzliche Grüße
Anne
Bei den Brockenhexen
Sie sitzen bei Tee
unter sterbenden Fichten
leise plaudernd
über den Geist der Zeit,
der frei und im Genesen ist.
Sie sind wie ich,
meine Freundinnen,
Schwestern und Nichten;
Frauen - hier und jetzt.
Die alten Besen brennen.
Mit hässlich-vulgären
derben Skulpturen,
welche die Gegend
reichlich verschandeln,
haben sie nichts am Hut!
Noch tanzen sie nicht.
Doch die große Trauer
geht vorüber,
und sie sprechen
in einer neuen Sprache.
Von der Integration
einer klaren Vernunft
in die Ganzheit,
von rundem Denken
Klugheit, Herzensbildung.
Vom Tun sprechen sie -
Wiederholungen,
die zu Ritualen werden.
Gefühlte Achtsamkeit -
alltägliche Freude.
Über das Paradox des Seins;
und die Notwendigkeit
sich einen Sinn zu wählen,
um Angst und Zwang
zu transformieren.
Von einer ruhigen Kraft
die jenseits von Zorn
und grenzenloser Gier
allmählich wächst
und Wurzeln schlägt.
Sie gähnen, rauchen vielleicht.
Lachen über die alte,
die neue Empörungskultur
und trinken einen Schnaps
auf den Wald von morgen.