
Vor mir steht ein 2018er Rosé vom VDP-Weingut Schmitt’s Kinder aus Radersacker in Franken. Seit über 300 Jahren begleitet die Familie Schmitt das Wachsen und Reifen der Trauben. Heute lenkt Martin Schmitt, Diplom-Ingenieur für Weinbau und Önologie zusammen mit seinen Eltern die Geschicke des Weinguts. Dabei kombiniert er das seit zehn Generationen weitergegebene Wissen mit seinen weltweit gesammelten Erfahrungen. Ich öffne die schlanke Flasche und gieße mir ein Gläschen von dem kühlen fruchtig-feinherben Tropfen ein.
Einstein soll einmal gesagt haben, dass es zwei Arten gibt, sein Leben zu leben: entweder so, als wäre nichts ein Wunder oder so, als wäre alles ein Wunder. Ich gehöre der zweiten Art an. Vielleicht weil ich Vieles sehr intensiv, und visuelle Eindrücke bis ins kleinste Detail wahrnehme.

Wäre für mich nichts ein Wunder, wäre ich wahrscheinlich sehr unglücklich. Ich würde mich bitterlich beschweren, dass ich nicht wie andere weite Reisen oder Tagesausflüge machen kann. Doch ich habe erkannt, was für ein Geschenk in der Entschleunigung liegt, zu der ich dadurch gezwungen bin. Für mich ist jeder Tag wie eine kleine Reise. Jede Wanderung ein Abenteuer. Und mir wird es nicht langweilig, auf meinen Spaziergängen immer wieder denselben Weg zu gehen: zum Südpark, an der Scharfen Lanke entlang, durch die Kleingarten-Siedlung in der Einstein im Burgunderweg ein Häuschen hatte. Er nannte es sein Spandauer Schloss und flüchtete sich aus dem Großstadtrubel hierher, denn die Tiefe des Denkens gedeiht nicht neben Geschäftigkeit.
Dieser Rosé mit seinen Erdbeeraromen passt zu den frühlingshaften Eindrücken die ich von draußen mitgebracht habe. Auf meinen Spaziergängen beobachte ich von Woche zu Woche, wie sich die Natur verändert. In diesem Frühjahr war das durch das Home Office noch intensiver als sonst. Ich freute mich über die Schneeglöckchen, Krokusse. Blaustern und Buschwindröschen. Dann Schlüsselblumen. Knoblauchsrauke. Bärlauch und Wiesenkerbel. Zuletzt die Maiglöckchen. Das Blühen der Bäume, das Aufrollen der Blätter konnte ich in jedem Stadium miterleben. Den Gesang eines Kleibers hören, der ja mit dem Kopf voran den Baumstamm hinabläuft. Wie die übermütigen Eichhörnchen, die daneben auch noch gewagte Sprünge üben. Im Südpark hat das Schwanenpaar ein Nest gebaut. Jedes Mal habe ich geschaut, ob sie noch sitzen. Und endlich letzte Woche die drei jungen Schwäne entdeckt, die zusammen mit ihren eleganten Eltern sogleich zu den prominenten Fotomodellen des Teiches geworden sind.

An der Scharfen Lanke konnte ich die Balz der Haubentaucher – den sogenannten Pinguintanz – miterleben. Während in den Gärten üppig Rhododendron und Flieder blühen, nun auch die Kastanien in ihrer hochaufgetürmten Pracht stehen, tummeln sich dicht am Ufer junge Blessrallen mit ihrem noch wuscheligen dunklen Gefieder und den tiefroten Köpfchen. Aus diesen Momenten schöpfe ich Kraft. Es hilft mir die Stimmung unterwegs, die argwöhnischen Blicke auszuhalten. Und mich der Realität wieder zu stellen, mit ihren vielen Nachrichten und Diskussionen. All den neuen Regeln und Zahlen aus unterschiedlichsten Quellen, die intellektuellen Debatten, wissenschaftlichen Erkenntnisse und kritischen Gegendarstellungen. Und wie so oft bin ich nicht in der Lage, mir auf die Schnelle eine Meinung zu bilden. Das alles für mich einzuordnen und eine Position zu beziehen. Oft werde ich deshalb belächelt. Ich verstünde es halt nicht. Lebte in meiner eigenen Welt. So unfair können Gesprächspartner werden, wenn sie ihre Bewertungen und Urteile nicht bestätigt sehen. Doch nun habe ich ein weiteres Zitat von Einstein entdeckt, das mich sehr tröstet: Wenn die Menschen nur über das sprächen, was sie begreifen, dann würde es sehr still auf der Welt sein.
Gut - vielleicht habe ich wirklich eine etwas eigene Art zu denken. Es ist mehr ein Denkfühlen. Ich muss allein sein. Brauche Ruhe. Entspannung. Vielleicht noch ein Schlückchen Wein … Und irgendwann kann ich es formulieren: Dass nämlich meine tiefe Liebe zur Schöpfung, mein demütiges Staunen auch die Viren mit einschließt. Sie sind sogar auch Teil von uns, sitzen in unserem Erbgut. Und größtenteils sind sie alt, unvorstellbar alt. Fast so alt wie das Leben selbst. Hätten sie ein Bewusstsein wie wir, so würden sie vielleicht sagen: „Was? Dinosaurier und Schildkröten? Die kleinen Wesen, die kürzlich zur Welt gekommen sind? Und soeben geboren: der erste Schmitt, mit seinen vielen Winzerkindern …“
Wer so lange ausharrt ist zäh; selbst auf ein paar tausend Jahre im sogenannten ewigen Eis kommt es den Viren nicht an. Und zimperlich sind sie auch nicht. Sie wollen halt überleben. Wie alle anderen Bewohner dieses Planeten auch. Von gewaltfreier Kommunikation haben sie wahrscheinlich noch nichts gehört, aber darum kümmert sich die Eule, die eine Maus frisst, auch nicht.
Ich muss die Viren nicht verteufeln, und ich habe auch keine akute Todesangst. Aber durchaus einen gesunden Respekt. Deshalb versuche ich im Rahmen der Möglichkeiten Abstand zu halten. Das ist auch eine Art von Relativitätstheorie: die bestehenden und immer abstrakt und allgemein formulierten Regeln dynamisch auf die jeweilige Situation anzuwenden. Ich trage meine Maske in der Bahn und wenn ich einkaufen gehe, auch wenn ich nicht weiß, ob das nun virologisch oder psychologisch oder am Ende überhaupt nichts nützt. Lernen ist Erfahrung, sagt Einstein.
Alles andere sei einfach nur Information. Die durchaus interessant sein kann. Ich schenke mir nämlich gerade den letzten Schluck Rosé ein, sehr vorsichtig damit der Weinstein in der Flasche bleibt. Dabei handelt es sich um natürliche, im Wein vorkommende Mineralien wie Kalium oder Kalzium, die sich mit der Weinsäure verbunden haben und auskristallisiert sind. Weinstein ist gesundheitlich völlig unbedenklich und beeinflusst auch den Geschmack des Weines nicht.
Irgendwann werden wir über die Viren, auch über das spezielle Virus, das uns derzeit so viel Kopfzerbrechen bereitet, vielleicht auch eine so klare Aussage treffen können. Bis dahin bleibt uns nichts anderes übrig, als uns jeden Tag aufs Neue auf die geänderte Situation einzustellen.
Und zu hoffen. Zu träumen? Zu spinnen? Phantasie ist wichtiger als Wissen, denn Wissen ist begrenzt. Das ist wohl einer seiner bekanntesten Sätze. Als ich die Weltkarte mit all den Infektionsherden zum ersten Mal sah, da durchfuhr es mich: Jetzt erkennen es alle, dass wir auf der Erde wie miteinander im selben Boot sitzen. Dass wir menschenwürdige und nachhaltige Lebensbedingungen für alle schaffen müssen. Und ich malte mir das auch sogleich in den schönsten Farben und Konzepten aus. In dieser Krise steckt das noch tief vergrabene Saatkörnchen zum Weltfrieden. Und wenn ich hundert Jahre alt werde, dann erlebe ich das noch. Ja, wenn wir auf der einen Seite der Welt nur überlegten, was wir wirklich brauchen, dann …
Ich kriege Schluckauf und merke, dass mein kreativer Geist dabei ist, mit mir durchzugehen. Ja, auch Einstein hat sich im Alter Gedanken über einen Weltfrieden gemacht. Doch ich nehme mich jetzt mal lieber an meinem eigenen Clownsnäschen und frage mich, ob ich wirklich eine ganze Flasche Wein brauche?!!! Er ist wahnsinnig lecker! Doch hätte er nicht gerade deshalb mehr Wertschätzung und Achtsamkeit verdient? Und auf zwei, drei Tage verteilt getrunken werden sollen?! Und was ist mit meiner goldenen Regel: Don’t drink and write?! Auch beim Weinblog? Ich werde Ulrike und Friedrich mal befragen – zum Thema verantwortungsvoller Genuss …
Quellen/Zitatnachweise: Artikel Tagesspiegel vom 01.11.2016, Jüdische Allgemeine vom 14.05.2020, Wikipedia; geo.de; www.deutscheweine.de